Kürzlich im Sparring diskutierte ich mit einem Kunden eine irritierende Situation: Warum verhält sich ein älterer Kollege in wichtiger Position und kurz vor der Rente so komisch, so wider seine Natur? Warum setzt er Dinge um und durch, die vollkommen gegen sein Wertesystem verstoßen?
Nach einigen Überlegungen blieb einzig die These, dass er sich unter massivem Druck fühlen musste, wahrscheinlich mehreren Drücken:
- Vielleicht ist sein Haus noch nicht vollständig abbezahlt?
- Vielleicht befinden sich die Kinder noch in Schule, Ausbildung oder Studium?
- Vielleicht ist er für pflegebedürftige Personen verantwortlich?
- Vielleicht hat er eine Krankheit oder eine andere Einschränkung?
- Oder vielleicht hat er Stress in der Beziehung?
Ursachen kann es viele geben.
Das machte meinen Kunden stutzig. Er hielt sich für frei von solchen Zwängen. Als Sparringspartner fragte nach. Da wurde ihm bewusst, dass er – bisher unbewusst – ebenfalls eine erste solche „Fußfessel“ hatte. Durch die Reflexion wurde ihm klar, dass seine berufliche Mobilität – sowohl die Wechselbereitschaft als auch die vorstellbare Entfernung für einen potenziellen Wechsel – durch sein kleines Kind deutlich abgenommen hat. Und er fing an zu verstehen, wie diese unbewusste Fußfessel begann, seine Entscheidungen zu beeinflussen!
Das ließ mich nachdenken. In meiner Praxis habe ich immer wieder Situationen erlebt, in denen sich Menschen vermeintlich unlogisch oder irrational verhielten. In der Regel hatte das mit solchen oder vergleichbaren empfundenen Beschränkungen zu tun.
So existiert von der Medaille, deren eine die Fußfessel ist, auch eine andere Seite: der „Goldene Käfig“. Auch wenn ein Goldener Käfig im Vergleich zu Fußfesseln wie ein Luxusproblem wirkt, macht er doch etwas mit uns. Der Goldene Käfig versorgt uns zwar einerseits mit
- hoher Wirksamkeit (Backoffice, Fachabteilungen, großer Hebel, Firmenname),
- hohem Gehalt,
- hohem Status (Titel, Auto, Büro, Reisen) und
- hoher sozialer Absicherung (Sicherheit des Gehalts, Betriebsrente, Benefits).
DOCH auch im Goldenen Käfig spüren wir andererseits Unfreiheit, Beschränkung und angebunden Sein:
- Wir haben das Gefühl, uns nicht entwickeln und entfalten zu können.
- Wir haben das Gefühl, Möglichkeiten und Chancen zu verpassen.
- Wir haben das Gefühl, nicht in unsere Kraft und Mitte zu kommen.
- Wir haben das Gefühl, dass unser Leben ohne uns stattfindet.
Dadurch kann der Übergang zwischen Goldenem Käfig und Fußfessel letztlich fließend sein – vor allem, wenn man sich auf dem hohen Niveau von Gehalt und Status eingerichtet hat. Denn letztlich heißt es bei Goldenem Käfig und Fußfessel gleichermaßen: „Ich kann nicht …
- meinen Job wechseln,
- umziehen,
- mich von meinem Partner/meiner Partnerin trennen,
- mich weiter qualifizieren, z.B. Studieren oder eine andere Aus-/Weiterbildung machen,
- mir Zeit für mich und mein Spezialinteresse nehmen (z.B. Teilzeit oder Sabbatical),
- mich nochmal verändern
et cetera, et cetera.“
Doch zurück zu dem Gespräch mit meinem Kunden: Nun sind weder Kinder per se Fußfesseln noch Fußfesseln in jedem Fall schlimm. Denn irgendwann im Leben sagt wahrscheinlich jeder einmal „JA“ zu einer größeren Verpflichtung und trägt die Konsequenzen – auch die der eingeschränkten Freiheit oder Freizügigkeit.
Was aber wichtig ist: Wir sollten uns die gefühlte Fußfessel oder den Goldenen Käfig bewusst machen. Wir sollten die Beschränkung empfinden und zulassen. Und wir sollten dieses Gefühl benennen:
- „Ich fühle mich unter Druck.“
- „Ich fühle mich in meinem Handeln eingeschränkt.“
Das erleichtert bereits ungemein. Das Thema ist nun benannt und klar – und damit nicht mehr unbestimmt oder diffus. So wird es händelbar und der Stresslevel geht zurück.
Die Psychologie bezeichnet dieses sprachliche Benennen von Emotionen als „Affect Labeling“. Dabei passiert etwas sehr Spannendes in unserem Gehirn: Das Benennen senkt die Aktivität der Amygdala (unser „Alarmzentrum“) und aktiviert den präfrontalen Cortex, der für Selbststeuerung und Emotionsregulation zuständig ist. Wer also seine Gefühle klar benennt, beruhigt sein Nervensystem messbar und fördert innere Balance.
So haben wir im Sparring
- das Spüren in Erkennen überführt,
- aus Erkennen Bewusstsein gemacht und
- das bewusst Gewordene ausgesprochen.
Und damit haben wir in der Tat bereits Erleichterung schaffen können.
Um sich jedoch von Fußfesseln oder aus Goldenen Käfigen zu befreien – oder damit inneren Frieden zu schließen –, empfiehlt es sich, weiterzugehen:
- Reflektieren und Hinterfragen: „Kann ich WIRKLICH nicht?“
Oft wird dann die Antwort lauten: „Vermutlich schon. Ich weiß nur nicht, ob mir die Konsequenzen gefallen.“
Und genau das kann der Schlüssel sein. - Sich eingestehen und anschauen, welche Konsequenzen das hat.
- Über Lösungen brainstormen und Alternativen entwickeln.
- Entscheidungen treffen.
- Lösungen umsetzen.
Da man gegenüber sich selbst oft blind ist, bietet es sich an, sich mit vertrauten oder vertrauenswürdigen Personen dazu auszutauschen. Dafür liegen natürlich zunächst die einem nahestehenden Menschen „nahe“: der Partner/die Partnerin, die Familie oder enge Freunde.
Je nach Thema oder Situation können aber gerade auch die nahestehende Personen involviert oder befangen sein. So können Nahestehende je nach Situation Teil des Problems sein und so die Sicht (spüren, erkennen) verdecken oder verschleiern. Auch fallen gerade Selbsteingeständnisse (sich etwas bewusst machen, es für sich aussprechen, das Ganze hinterfragen) gegenüber diesen Personen typischerweise schwerer als gegenüber einer neutralen Person in professioneller Rolle. Und schließlich ist man selbst gerade beim Erkennen, Hinterfragen und Alternativen diskutieren selbstbeschränkt, so dass eine Außensicht bei diesen Schritten fast zwingend ist.
In Summe bietet sich gerade in solchen Fällen ein neutraler Sparringspartner für einen Austausch auf Augenhöhe an.
Den Partner/die Partnerin, die Familie oder enge Freunde sollten immer dann involviert werden, wenn sie hilfreich sein können (situations- oder themenabhängig). Jedenfalls müssen sie einbezogen werden, wenn sie ebenfalls betroffen sind und/oder Lösungen nur gemeinsam gefunden und umgesetzt werden können. So kann dann zusammen geschaut werden, was benötigt wird oder getan werden kann, um das Druckempfinden zu lindern und die Situation gemeinsam besser zu meistern.